Dienstag, 6. Januar 2015

Das Traumlied von Olaf Åsteson

Hans Niessen singt das Traumlied
(4. Januar 2015 in Achberg)
Seit drei Jahren wird im Rahmen der Achberger Weihnachtstagungen nun schon das „Traumlied des Olaf Åsteson“ gepflegt. So auch in diesem Jahr. Das norwegische mittelalterliche Lied wurde von Generation zu Generation mündlich überliefert. Erst im 19. Jahrhundert wurden die noch bekannten Strophen gesammelt und aufgezeichnet. Der norwegische Text wurde auch an Rudolf Steiner herangebracht, der ihn mit Hilfe von Ingeborg Møller-Lindholm übersetzte und ab 1910 in verschiedener Weise in die anthroposophische Arbeit mit einflocht.

Vor 100 Jahren am Silvesterabend des Jahres 1914 (GA 275 Kunst im Lichte der Mysterienweisheit) fand Rudolf Steiner folgende Worte, die er der Rezitation des Liedes durch Marie Steiner voranstellte:

„Wir beginnen diese Feier unseres Jahresschlusses damit, daß uns Frau Dr. Steiner die schöne norwegische Legende von Olaf Åsteson zum Vortrag bringen wird, von jenem Olaf Åsteson, der, als die Weihnachtszeit herannahte, in eine Art von Schlaf verfiel, welcher dreizehn Tage dauerte: die heiligen dreizehn Tage, die wir bei verschiedenen unserer Betrachtungen kennengelernt haben. [...]
Olaf der Erdensohn, erlebt in diesen dreizehn kürzesten Tagen, indem er entrückt ist in den Makrokosmos, mancherlei Geheimnisse des Weltenalls. Und die nordische Legende, die in neuerer Zeit wieder ausgegraben worden ist aus alten Nachrichten, berichtet uns von den Erlebnissen, die Olaf Asteson hatte zwischen der Weihnachts- und Neujahrszeit bis zum 6. Januar. Wir haben wohl Veranlassung, öfter zu gedenken dieser alten Art des Einlebens des Mikrokosmos in den Makrokosmos“.

Loes Swart, eine Mitarbeiterin des Internationalen Kulturzentrums Achberg, hat aus unserer Befassung mit dem Taumlied den Versuch gemacht, sich mit 13 Zeichnungen ("Illustrationen") in die Motive des Traumlieds zu vertiefen. Der Text ist die Übersetzung Rudolf Steiners (a.a.O).


DAS TRAUMLIED VON OLAF ÅSTESON

 I.

So höre meinen Sang!
Ich will dir singen
Von einem flinken Jüngling:

Es war das Olaf Åsteson,
Der einst so lange schlief.
Von ihm will ich dir singen.


II.

Er ging zur Ruh' am Weihnachtsabend.
Ein starker Schlaf umfing ihn bald,
Und nicht konnt' er erwachen,
Bevor am dreizehnten Tag
Das Volk zur Kirche ging.

Es war das Olaf Åsteson, 
Der einst so lange schlief. 
Von ihm will ich dir singen.

Er ging zur Ruh' am Weihnachtsabend.
Er hat geschlafen gar lange!
Erwachen konnt' er nicht,
Bevor am dreizehnten Tag
Der Vogel spreitet die Flügel!

Es war das Olaf Åsteson, 
Der einst so lange schlief. 
Von ihm will ich dir singen.

Nicht konnte erwachen Olaf,
Bevor am dreizehnten Tag
Die Sonne über den Bergen glänzte.
Dann sattelt' er sein flinkes Pferd,
Und eilig ritt er zu der Kirche.

Es war das Olaf Åsteson, 
Der einst so lange schlief. 
Von ihm will ich dir singen.

Schon stand der Priester
Am Altar lesend die Messe,
Als an dem Kirchentore
Sich Olaf setzte, zu künden
Von vieler Träume Inhalt,
Die in dem langen Schlafe 
Die Seele ihm erfüllten.

Es war das Olaf Åsteson, 
Der einst so lange schlief. 
Von ihm will ich dir singen.

Und junge und auch alte Leute, 
Sie lauschten achtsam der Worte, 
Die Olaf sprach von seinen Träumen.

Es war das Olaf Åsteson, 
Der einst so lange schlief. 
Von ihm will ich dir singen.


III.

»Ich ging zur Ruh' am Weihnachtsabend.
Ein starker Schlaf umfing mich bald;
Und nicht konnt' ich erwachen,
Bevor am dreizehnten Tag
Das Volk zur Kirche ging.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Erhoben ward ich in Wolkenhöhe
Und in den Meeresgrund geworfen,
Und wer mir folgen will,
Ihn kann nicht Heiterkeit befallen.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Erhoben ward ich in Wolkenhöhe,
Gestoßen dann in trübe Sümpfe,
Erschauend der Hölle Schrecken
Und auch des Himmels Licht.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Und fahren mußt' ich in Erdentiefen,
Wo furchtbar rauschen Götterströme.
Zu schauen nicht vermocht' ich sie,
Doch hören konnte ich das Rauschen.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Es wiehert' nicht mein schwarzes Pferd,
Und meine Hunde bellten nicht,
Es sang auch nicht der Morgenvogel,
Es war ein einzig Wunder überall.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Befahren mußt' ich im Geisterland
Der Dornenheide weites Feld,
Zerrissen ward mir mein Scharlachmantel
Und auch die Nägel meiner Füße.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Ich kam an die Gjallarbrücke.
In höchsten Windeshöhen hänget diese,
Mit rotem Gold ist sie beschlagen
Und Nägel mit scharfen Spitzen hat sie.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Es schlug mich die Geisterschlange,
Es biß mich der Geisterhund,
Der Stier, er stand in Weges Mitte.
Das sind der Brücke drei Geschöpfe.
Sie sind von furchtbar böser Art.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Gar bissig ist der Hund,
Und stechen will die Schlange,
Der Stier, er dräut gewaltig!
Sie lassen keinen über die Brücke,
Der Wahrheit nicht will ehren!

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Ich bin gewandelt über die Brücke,
Die schmal ist und schwindelerregend.
In Sümpfen mußt' ich waten...
Sie liegen nun hinter mir!

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

In Sümpfen mußt' ich waten,
Sie schienen bodenlos dem Fuß.
Als ich die Brücke überschritt,
Da fühlt' ich im Munde Erde
Wie Tote, die in Gräbern liegen.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

An Wasser kam ich dann,
In welchen wie blaue Flammen
Die Eismassen hell erglänzten...
Und Gott, er lenkte meinen Sinn,
Daß ich die Gegend mied.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Zum Winterpfad lenkt' ich die Schritte.
Zur Rechten konnt' ich ihn sehn:
Ich schaute wie in das Paradies,
Das weithin leuchtend strahlte.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Und Gottes hohe Mutter,
Ich sah sie dort im Glanze!
Nach Brooksvalin zu fahren,
So hieß sie mich, kündend,
Daß Seelen dort gerichtet werden!

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

IV.

In andern Welten weilte ich
Durch vieler Nächte Längen;
Und Gott nur kann es wissen,
Wie viel der Seelennot ich sah -

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Ich konnte schauen einen jungen Mann,
Er hatte einen Knaben hingemordet:
Nun mußte er ihn ewig tragen
Auf seinen eignen Armen!
Er stand im Schlamme so tief

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Einen alten Mann auch sah ich,
Er trug einen Mantel wie von Blei;
So ward gestraft, daß er
Im Geize auf der Erde lebte,

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Und Männer tauchten auf,
Die feurige Stoffe trugen;
Unredlichkeit lastet
Auf ihren armen Seelen

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Auch Kinder konnt' ich schauen,
Die Kohlengluten unter ihren Füßen hatten;
Den Eltern taten sie im Leben Böses,
Das traf gar schwer ihre Geister

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Und jenem Hause zu nahen,
Es ward mir auferlegt,
Wo Hexen Arbeit leisten sollten
Im Blute, das sie im Leben erzürnt,

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Von Norden her, in wilden Scharen,
Da kamen geritten böse Geister,
Vom Höllenfürsten geleitet,

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Was aus dem Norden kam,
Das schien vor allem böse:
Voran ritt er, der Höllenfürst,
Auf seinem schwarzen Rosse

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Doch aus dem Süden kamen
In hehrer Ruhe andre Scharen.
Es ritt voran Sankt Michael
An Jesu Christi Seite

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Die Seelen, die sündenbeladen,
Sie mußten angstvoll zittern!
Die Tränen rannen in Strömen
Als böser Taten Folgen

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

In Hoheit stand da Michael
Und wog die Menschenseelen
Auf seiner Sündenwaage,
Und richtend stand dabei
Der Weltenrichter Jesus Christ

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

V.

Wie selig ist, wer im Erdenleben
Den Armen Schuhe gibt;
Er braucht nicht mit nackten Füßen
Zu wandeln im Dornenfeld.

Da spricht der Waage Zunge,
Und Weltenwahrheit
Ertönt im Geistesstand.

Wie selig ist, wer im Erdenleben
Den Armen Brot gereicht!
Ihn können nicht verletzen
Die Hunde in jener Welt.

Da spricht der Waage Zunge,
Und Weltenwahrheit
Ertönt im Geistesstand.

Wie selig ist, wer im Erdenleben
Den Armen Korn gereicht!
Ihm kann nicht drohen
Das scharfe Horn des Stieres,
Wenn er die Gjallarbrücke
überschreiten muß.

Da spricht der Waage Zunge,
Und Weltenwahrheit
Ertönt im Geistesstand.

Wie selig ist, wer im Erdenleben
Den Armen Kleider reicht!
Ihn können nicht erfrieren
Die Eisesmassen in Brooksvalin.

Da spricht der Waage Zunge,
Und Weltenwahrheit
Ertönt im Geistesstand.«

VI.

Und junge und auch alte Leute,
Sie lauschten achtsam der Worte,
Die Olaf sprach von seinen Träumen.
Du schliefest ja gar lange...
Erwache nun, o Olaf Ästeson!

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